Zum Tod von Galina Kozhevnikova

Alexander Umland, Russland heute, 14. März 2012. Vor einem Jahr, am 5. März 2011, verstarb nach längerer Krankheit Dr. Galina Koshewnikowa, die stellvertretende Direktorin des Moskauer „SOVA“-Zentrums. „SOVA“ (Eule) dürfte den meisten Russlandbeobachtern bekannt sein als die führende jener wenigen russischer NGOs, die sich mit dem Monitoring und der Analyse rechtsextremistischer Tendenzen und Gewalttaten in Russland befassen.

Abgesehen davon dass Galja ein außergewöhnlich helles Gemüt hatte, war sie eine der profiliertesten russischen SpezialistInnen für Ultranationalismus und Xenophobie im postsowjetischen Raum. Die Signifikanz der vielen Publikationen Galjas wurde etwa darin deutlich, dass die Forscherin mehrfach von russischen Neonazis verbal und physisch bedroht wurde. Mit ihrem Tod verliert Russland einen wichtigen Beiträger zu seinem innenpolitischen Diskurs. Da die Forschungsobjekte Galjas in den vergangenen Jahren an politischer Bedeutung gewonnen haben, hätte ihr Weggang kaum zu einem ungünstigeren Zeitpunkt passieren können.

Leidet doch Galjas wichtigstes Analysethema – heutiger russischer Ultranationalismus – an „Unterforschung“. Trotz der hohen aktuell-, ja, wie unten dargelegt, sicherheitspolitischen Relevanz der in den „SOVA“-Berichten zu russischem Rechtsextremismus dargelegten Ereignisse und Trends, ist die internationale Gemeinde der Forscher, welche sich intensiv mit diesem Thema auseinandersetzen, klein. Damit ist auch die Zahl der bisherigen relevanten politologischen und zeitgeschichtlichen Publikationen zum Thema gering. Dafür mögen uns Sozialwissenschaftler anderer Untersuchungsbereiche, die womöglich mit „Überforschung“ konfrontiert sind, beneiden. Allerdings ist das Brachland an mehr oder minder unbearbeiteten Themen im Bereich „Russischer Ultranationalismus“ bzw. die Zahl der bislang nicht oder gering untersuchten Parteien, Gruppierungen, Zirkel, Verlage, Organe, Publikationen usw. inzwischen so groß, dass der einzelne Forscher in einer Flut an ungeprüften, ungeordneten und unverknüpften Informationen versinkt.

Die Vielfalt der ultranationalistischen Erscheinungen im heutigen Russland ist hoch, und die Tendenz scheint – weiter steigend. Wie Galina und der „SOVA“-Gründer Alexander Werchowski sicher zugestimmen hätten, beobachtet „SOVA“ bei weitem nicht alle relevanten ultranationalistischen Tendenzen in der russischen Gesellschaft gezielt. In den „SOVA“-Berichten ging und geht es hauptsächlich um Hassverbrechen bzw. Hate Speech, religiösen Extremismus, physische und andere Gewalt sowie die Art und Weise ihrer – häufig kritikwürdigen – Verfolgung durch die russischen Rechtsschutzorgane. Damit verbundene Phänomene in der Parteienlandschaft, in Kunst und Literatur oder auch im Hochschul- bzw. Verlagswesen wurden und werden von „SOVA“ nur unregelmässig registriert und analysiert. Man würde sich im Grunde einen zweiten alljährlichen Bericht von „SOVA“ oder einem anderen Monitoringzentrum zu solchen weiteren Tendenzen wünschen. Dies gilt umsomehr, als von letztgenannten Erscheinungen häufig jene Konzepte und Theorien ausgehen, die russischen Skinheads und anderen Rassisten zur Begründung, Steuerung und Rechtfertigung ihrer Verbrechen dienen.

Es werden zwar eine hohe Menge an Daten durch Presse- und andere Organe allwöchentlich zur Verfügung gestellt. Insbesondere entlarvt die zwar nur noch wenig einflussreiche, aber weiterhin existente Journalisten-Community der verbliebenen russischen unabhängigne Periodika (z.B. „Novaja gazeta“, „The New Times“) sowie regierungsfernen informativen WWW-Zeitungen (Polit.ru, Gazeta.ru, Grani.ru u.a.) mit Mut und Verve nationalistische Phänomene in der russischen Gesellschaft, Kultur und Politik. Jedoch gibt es nur wenige Wissenschaftler inner- und ausserhalb Russlands, die sich systematisch mit diesem Datenstrom auseinandersetzen. Meines Wissens beschränkt sich die Zahl der „hauptberuflichen“ Erforscher von postsowjetischem russischen Ultranationalismus auf weniger als ein Dutzend Personen. Es scheint – neben „SOVA“ – weltweit nur wenig mehr als eine handvoll von Analytikern zu geben, etwa Marléne Laruelle (Washington, DC), Wladimir Pribylowski (Moskau), Wiktor Schnirelman (Moskau), Wladimir Malachow (Moskau) oder John B. Dunlop (Stanford), die mehr oder minder intensiv Informationen zu diesem Thema sammeln, übersetzen, sichten, filtern und analysieren sowie Ergebnisse langfristiger, systematischer Arbeit regelmässig an die Öffentlichkeit bringen.

Angesichts des innenpolitischen Gewichts des erstarkten russischen Nationalismus sowie der fortgesetzten Bedeutung Russlands im internationalen Machtgefüge ist die Unterbesetzung unseres Forschungsgebietes nicht nur aus regionalwissenschaftlicher Perspektive schmerzlich. Die „Personalprobleme“ der russlandbezogenen Rechtsextremismusforschung sind auch unter einem politisch-praktischen Gesichtspunkt riskant. Wir bleiben –  insbesondere nach Galjas Weggang – schlecht informiert über die anwachsenden extremistischen Aktivitäten im größten Land der Erde, welches auf absehbare Zeit eine nukleare Supermacht bleiben wird. Dies ist ein Luxus, den sich z.B. die Europäische Union eigentlich nicht leisten kann. Die Kosten einer fortgesetzten wissenschaftlichen Unterbelichtung der mannigfachen rechtsradikalen Tendenzen in Russland sowie daraus folgender politischer Fehleinschätzungen und -entscheidungen der russischen Innen- und Aussenpolitik könnten in einem Worst-Case-Szenario hoch sein.

Vor diesem Hintergrund ist Koshewnikowas Weggang nicht nur ein grosser menschlicher Verlust für ihre Verwandten und Freunde. Galjas allzufrüher Tod bedeutet auch einen disproportional schweren Schlag für die russlandbezogene Rechtsextremismusforschung. Auf absehbare Zeit wird sie kaum jemand in den russischen öffentlichen und akademischen Debatten um den steigenden russischen Ultanationalismus ersetzen können. Bleibt zu hoffen, dass sich sowohl in Russland als auch anderen Ländern neugierige Diplomanden, Doktoranden und Postdoktoranden finden, welche die gesellschaftliche Bedeutung und wissenschaftliche Fruchtbarkeit einer Fortführung von Koshewnikowas Forschung erkennen.

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