aka berlin, indymedia linksunten, 13. April 2011. Seit einigen Wochen stehen das Nazi-Ehepaar Evgenija Khasis und Nikita Tichonov als Beschuldigte im Prozess um den Mord am anarchistischen Anwalts und Menschenrechtler Stanislaw Markelov und der antifaschistischen Journalistin und Aktivistin Anastasja Baburova am 19. Januar 2009 vor einem Moskauer Gericht. Das Verfahren verkommt immer mehr zu einer Farce. Neben der massiven Bedrohung der Richter_innen forcieren nationalistische Organisationen eine Kampagne zur Freilassung der beiden. Twittern aus dem Gerichtssaal und die mediale Begleitung des Prozesses sind hierbei noch die harmlosen Varianten der Etablierung einer kruden Legende um die beiden. Kampagnen zur Selbstbewaffnung, dokumentierte Schießübungen und klandestine Soli-Veranstaltungen sind die aggressive Form der Unterstützung.
Die Solidaritäts- und Kampagnen-Arbeit zur Begleitung des Verfahrens wird von der seit 2006 existierenden, seit 2008 allerdings erst aktiven selbsternannten nationalistischen Menschenrechts-und Gefangenen-Organisation Russkij Verdikt (RV) übernommen. Kopf der Gruppe ist Aleksej Baranovski. Er führt die Kampagne zur Entlastung von seiner Nazi-Genossin Khasi hauptamtlich. Er behauptet, daß Khasis eine Menschenrechtlerin sei und die militante nationalistische Szene betreut hat. Sie hätte nix mit Morden und Anschlägen zu tun, mit Nazi-Terrorist_innen allerdings schon.
Des Weiteren lieferte Baranovski Khasis in seiner Aussage ein Alibi. Er behauptete, daß er zusammen mit ihr zum Tatzeitpunkt einkaufen war. Eine weitere Zeugin der Verteidigung sagte ebenfalls aus, daß sie durch Baranovski und Khasis gemeinsam einkaufen waren. Deise Information soll ihr Baranovski am Tattag telefonisch mitgeteilt haben. Am vergangenen Montag bestätigte nun Khasis das Alibi und ergäzte, daß sie nach dem Treffen mit Baranovski sich eine Wohnung angeschaut hätte. Diese neue Entwicklung erscheint allerdings mächtig konstruiert. Die Staatsanwaltschaft hatte zu Beginn des Prozesse zahlreiche Zeug_innen präsentiert, die sowohl Khasis als auch Tichonov zum Zeitpunkt der Ermordung von Markelov und Baburova die beiden Beschuldigten am Tatort gesehen haben. RV, für die Khasis gearbeitet haben soll, legt sich für seine Mitarbeiterin offenbar mächtig ins Zeug.
Nikita Tichonov dagegen, der Ehemann und (mutmaßliche) Mörder von Markelov und Baburova, wird in erster Linie durch Russkij Obraz (RO) unterstützt. Er gründete zusammen mit seinem Nazi-Kumpel Il’ja Gorjachev im Jahr 2003 das gleichnamige nationalistische Magazin. Zwischen 2003 und 2008 erschienen acht Ausgaben, die zunehmend aufwändiger und professioneller aussahen. RO gehört zum Spektrum der Autonomen Nationalist_innen. In Russland nennen sie sich selbst Autonome Widerstandsgruppen.
Die Organisation RO ist im russischen Blood & Honour Ableger vernetzt und publizierte die gemeinsame Erklärung „Eticheskij Kodeks Russkogo Nazionalista“ (Ethischer Kodex des Russischen Nationalisten). Unterschrieben hatten RO, Blood & Honour / Combat 18 sowie die militante Gruppe Ob’edinennye Brigady-88 (Vereinte Brigaden-88, OB-88) zu der Tichonov gehört haben soll. Russkij Obraz ist fest in der Nazi-Hardcore und die Straight-Edge-Szene verwurzelt. Seit 2009 tritt RO vermehrt mit eigenen Aktionen in der Öffentlichkeit auf. Der erste Höhepunkt war das Nazi-Konzert zum russischen „Tag der Einheit des Volkes“ am 4. November, dem Großkampftag der russischen nationalen Bewegung, die sich landesweit an diesem Tag zu „Russischen Märschen“ versammelt. Seitdem scheinen sich RO und die DPNI angenähert zu haben. Deshalb war es nicht verwunderlich, daß im vergangenen Jahr die Zusammenarbeit zwischen der DPNI und RO schriftlich fixiert wurde.
Tichonov wird in der Soli-Kampagne von RV als Journalist medial verharmlost. Das er durchaus publizistisches Talent besitzt, konnte er in Wahlkampfkampagnen, in dem Magazin „Russkij Obraz“ und anderen Publikationen unter Beweis stellen. Seit 2006 war er als Verdächtiger im Mord an dem bekannten Antifa-Aktivistem Aleksandr Rjukhin untergetaucht. Markelov hatte die Untersuchung des Mordes an dem 19-Jährigene Antifaschisten für die ein Militanter von OB-88 verantwortlich gemacht wurde, voran getrieben und Tichonov geriet zunehmend unter Druck.
Nach der Festnahme im Mordfall Markelov / Baburova war sein Kompagnon und Chef von RO Gorjachev redselig und belastete Tichonov in seiner Aussage schwer. Tichonov wäre zusammen mit Khasis am Tatort gewesen. Beide hätten den Mord geplant und durchgeführt. Nach seiner Flucht ins Ausland revidierte Gorjachev allerdings seine Aussage schriftlich und schickte ans Moskauer Gericht eine notarielle Entlastung der beiden Beschuldigten. Gorjachev behauptet aus dem sicheren Exil, daß er durch die Sicherheitskräfte unter Druck gesetzt worden wäre. Unklar ist dennoch, weshalb er floh und warum er erst spät seine Aussage revidierte. Schließlich stand Gorjachevs neue Aussage am Anfang eine Entlastungskaskade durch Zeug_innen aus dem nationalistischen Spektrum.
Es bleibt aber, daß bei der Verhaftung von Tichonov und Khasis die Mordwaffe in ihrem Besitz gefunden wurde. Die Aussage von Tichonov, daß Gorjachev zum Zweck des Weiterverkaufs die Mordwaffe Monate nach dem Tod von Markelov und Baburova gebracht haben soll, erscheint wenig glaubwürdig. Tichonov soll, so behauptet er weiter, mit dem Anschlag auf die beiden nix zu tun gehabt haben. Er wurde lediglich von den Sicherheitskräften und Antifaschist_innen erneut als Sündenbock auserwählt.
Dies behauptet auch Khasis. Das auf ihrem Notebook zahlreiches Material nationalistischer Terrorist_innen gefunden wurde, erklärt sie mit ihrer Arbeit für die nationalistische „Menschenrechtsorganisation“ RV. Außerdem soll die wahrscheinlich nicht existente Boevaja Organizacija Russkikh Nazionalistov (Militärorganisation Russischer Nationalist_innen, kurz BORN) für den Mord verantwortlich. Jedoch geht das Informations- und Analysezentrum SOVA aus Moskau davon aus, daß BORN eine virtuelles Label und Gruppe ist, welche bei spektakulären Anschlägen und Morden lediglich eigene Bekennerschreiben verschickt. Mehrfach gab es, so Natal’ja Judina von SOVA, mehrere Bekennerschreiben bei nationalistischen Anschlägen und Morden.
Das Verfahren gegen Tichonov und Khasis verkommt immer mehr zur Farce. Die Verteidigung präsentiert Gefälligkeitsaussagen mal mehr mal weniger prominenter Nazis. Die Soli-Kampagne von RV professionalisiert sich zunehmend. Der Aufwand der nationalistischen Anti-Repressionsaktivist_innen steigt von Verhandlungstag zu Verhandlungstag, wohl auch aufgrund der vermeintlichen Entlastung der Beschuldigten. Nicht zu unterschätzen sind aber auch die Bedrohungen durch militante Nazis. Nach weiteren OB-88 Terrorist_innen, die anderen Anschlägen und Morden zugerechnet werden, wird weiter gefahndet. Ein weiterer Beteiligter am Mord von Markelov und Baburova soll der untergetauchte Aleksej „Korshin“ gewesen sein.
Beim derzeitigen Verlauf der Verhandlung ist leider alles möglich. Glücklicherweise sind andere mobilisierungsfähige nationalistische Organisationen wie die DPNI und Slavjanskij Sojuz selbst schwer unter Druck und können nicht öffentlich agieren ohne Gefahr zu laufen festgenommen zu werden. Solidarität und eine effektive Gegenöffentlichkeit auch außerhalb Russlands ist deshalb um so notwendiger.
Stas und Nastja – unvergessen!
Мы вас не забудим!