Aufruf

Am 19. Januar 2009 wurden der Menschenrechtsanwalt Stanislav Markelov und die Journalistin Anastasija Baburova in Moskau auf offener Straße von einem Nazi erschossen. Der Täter und seine Kompliz_innen gehörten zu einer nationalistischen Terrorzelle. Wir wollen im Januar 2012 an ihren Tod und an die zahlreichen anderen Opfer nationalistischer Gewalt erinnern sowie über militanten Nationalismus in Russland informieren.

Der 19. Januar 2009

Stanislav Markelov und Anastasija Baburova waren am Nachmittag des 19. Januar 2009 bei einer Pressekonferenz im Unabhängigen Presse-Zentrum unweit des Kreml. Markelov hatte gerade über seine Bemühungen berichtet, die vorzeitige Freilassung des wegen Vergewaltigung und Mordes verurteilten Oberst Jurij Budanov zu verhindern. Baburova war im Auftrag der Zeitung „Novaja Gazeta“ vor Ort. Sie schrieb an einem Artikel über die gefährliche Arbeit von Markelov und hatte mit ihm ein Interview geführt. Auf ihrem Weg zur Metro-Station näherte sich der militante Nazi Nikita Tichonov in der Straße Prichistenka Nr. 1 den beiden von hinten und schoß Markelov in den Kopf. Er starb sofort. Baburova wurde ebenfalls gezielt in den Kopf getroffen, überlebte aber zunächst schwer verletzt. Sie starb am Abend im Krankenhaus, ohne das sie das Bewußtsein wiedererlangte.

Stanislav Markelov war 34 Jahre alt, als ermordet wurde. Er beschäftigte sich ausschließlich mit politischen Fällen. Schon in den 90er Jahren, kurz nach seinem Abschluß an der Moskauer Universität, unterstützte er die belorussische Opposition. Für besondere Aufmerksamkeit sorgte er durch seine hartnäckige Vertretung von Opfern aus Chechenien und die Verteidigung von Antifaschist_innen sowie anderer emanzipatorischer Aktivist_innen. Neben seinem Engagement für die Opfer im Südkaukasus vertrat Markelov Journalist_innen, die bei ihrer Arbeit in Konflikt mit staatlichen Behörden oder informellen Strukturen geraten waren.

Anastasija Baburova war 25 Jahre alt, als sie durch die Kugel eines Nazis starb. Sie wuchs auf der Krim in Sevastapol auf. Baburova studierte in Moskau und begann nach ihrem Abschluß als Journalistin zu arbeiten. Sie schrieb zunächst für die staatliche Tageszeitung „Rossiskaja Gazeta“ und die Tageszeitung „Izvestija“. Erst seit Oktober 2008 veröffentlichte sie Artikel über die soziale und ökologische Bewegung in der Zeitung „Novaja Gazeta“. Sie schrieb vor allem über die Aktionen emanzipatorischer Gruppen, von Antifaschist_innen und die Gewalt russischer Nationalist_innen. Nastja engagierte sich außerdem in anarcholibertären, ökologischen Gruppen und war eine aktive Blogger_in.

Die Ermordung des engagierten Anwalts Stanislav Markelov und der Journalistin Anastasija Baburova war für viele Menschen ein Schock. Schon am nächsten Tag gab es eine kämpferische und laute Demonstration von bis zu dreihundert Antifaschist_innen. Im Februar zogen Menschenrechtler_innen durch Moskau und erinnerten an den Tod der beiden. Zum ersten Jahrestag der Ermordung von Markelov und Baburova im Jahr 2010 formierte sich ein breites Bündnis, das auch 2011 am 19. Januar landesweit zu Protesten gegen zunehmende Xenophobie, Gewalt militanter Nationalist_nnen, Nazi-Terrorismus und für ein offenes Russland jenseits nationalistischer Ausgrenzung aufrief.

Nationalismus tötet!

Die Mörder von Markelov und Baburova hießen Nikita Tichonov und Evgenija Khasis. Sie gehörten zu einer Zelle militanter Nazis. Tichonov war Mitbegründer der Zeitschrift „Russkij Obraz“ (Russische Gestalt), die sehr gute Kontakte zu russischen Autonomen Nationalist_innen und dem russischen Arm des Blood & Honour Netzwerk pflegte. Außerdem soll er Mitglied der Terror-Gruppe Ob’edinennye Brigady-88 (Vereinte Brigaden-88, OB-88) gewesen sein, die für Anschläge und Morde zum Beispiel an dem Antifaschisten Aleksandr Rjukhin verantwortlich war. Über Khasis ist nur wenig bekannt.

Der Mord gehört zu den zahlreichen Verbrechen militanter Nationalist_innen, die ihre Gewalt und ihren Terror mit nationalistischen Konstruktionen sowie einem Kampf gegen den vermeintlichen Untergang der russischen Nation rechtfertigen. Die nationalistischen Ansätze sind hierbei vielfältig und integrieren verschiedene Spektren von „links“ bis ganz „rechts“, von staatlichen oder regierungsloyalen bis zu außerparlamentarischen Bewegungen. Rassismus, Antisemitismus, fremdenfeindliche Ressentiments und neuerdings die (Selbst-) Konstruktion als vermeintliches Opfer einer kulturellen Okkupation bilden den diskursiven Hintergrund für nationalistische Superioritätssehnsüchte.

Wir lehnen nationale Kollektive und jeden positiven Bezug auf die Nation als Grundlage der Vergemeinschaftung kategorisch ab. Nationalismus ist und bleibt eine Ideologie der Ausgrenzung. Die Nation muß als negatives Kollektiv geschaffen werden. Der Kern der nationalen Frage ist eben nicht, wer gehört dazu, sondern, wer gehört nicht dazu. Das vermeintlich genuin „Eigene“ wird innerhalb nationalistischer Diskurse erst in der xenophoben Ausgrenzung des „Fremden“ erfunden und so als exklusive Gemeinschaft imaginiert. Das nationale Kollektiv konstituiert sich deshalb erst in der xenophoben Isolierung des „Fremden“ nach außen und macht so das vermeintlich exklusive nationale „Eigene“ nach innen sichtbar.

Der Nationalismus, egal ob er nun als mono- oder multiethnischer daher kommt, erfindet die Nation als exklusive Gemeinschaft, sammelt das nationale Kollektiv als „ein Volk“ durch xenophobe Ausgrenzung und transzendiert den Staat selbst als präexistente Entität. Hierbei erfindet er, wie in westlichen Ländern üblich, eine homogene ethnische Basis, die als präexistente Substanz die Illusion einer exklusiven Gemeinschaft imaginiert. Oder, wie in osteuropäisch multiethnischen Staaten üblich, der Staat sakralisiert ein mythisch anmutendes präexistentes Imperium. In beiden nationalistischen Spielarten erscheint die nationale Politik schicksalhaft und als ein permanentes Projekt zur Aufrechterhaltung der Einheit zwischen Volk, Staat und Nation. Aus diesem Grund werden alle Mitglieder_innen des Nationalstaat in den permanenten Abwehrkampf gegen das vermeintlich „Fremde“ zwangsrekrutiert.

Nationalist_innen führen diesen xenophoben Feldzug durch Diskriminierung oder Gewalt gegen vermeintlich „Fremde“. Militante Nationalist_innen überhöhen diesen Kampf zum Heiligen Krieg und töten Migrant_innen, vermeintliche Nicht-Mitglieder ihres nationalen Kollektivs oder Menschen, welche sich kritisch mit nationalen Konstruktionen auseinandersetzen. Nationalismus tötet – vor allem durch xenophobe Gewalt.

Keine_r ist vergessen!

Stanislav Markelov und Anastasija Baburova waren nicht die ersten Opfer nationalistischer Gewalt und sie werden auch nicht die letzen sein. Seit Jahren kommt es in Russland regelmäßig zu fremdenfeindlichen Übergriffen, Morden an Migrant_innen oder emanzipatorischen Aktivist_innen. Vermeintlich nicht-slawische Menschen und Antifaschist_innen werden gezielt attackiert und getötet. Das Informations- und Analysezentrum „Sova“ zählt jedes Jahr Dutzende Morde und mehrere Hundert verletzte Migrant_innen.

Neben xenophober Gewalt verüben militante Nationalist_innen terroristische Anschläge auf Geschäfte von Migrant_innen, Märkte aber auch auf die Infrastruktur des Landes sowie staatliche Institutionen. Einer der spektakulärsten Fälle war der Prozess gegen die „Ryno Bande“, die beinah 40 Menschen ermordet hat. Am 21. August 2006 starben bei einem Anschlag auf den Moskauer Cherkizovskij Markt 14 Menschen. Auch der Anschlag auf den Schnellzug „Nevski Express“ zwischen Moskau und St. Petersburg im November 2009, bei dem 39 Menschen starben, ging auf das Konto von Nazi-Terrorist_innen.

Außerdem töteten militante Nazis in den vergangenen Jahren zahlreiche Menschen. So wurde am 13. November 2005 der Musiker und antifaschistische Aktivist Timur Kacharev auf offener Straße. Im April 2006 wurde der aktive Antifaschist Aleksandr Rjukhin vor seinem Haus erstochen. Am 10. Oktober 2008 wurde Fedor Filatov, ein engagierter Aktivist und Mitbegründer der Moskauer Trojan Skinheads, von Nazis ermordet. Ebenfalls im Oktober 2008 starb Olga Rukosyla in Irkutsk, weil sie sich gegen Nazis wehrte. Dies sind nur einige Opfer. Unbekannt bleiben oft die zahlreichen getöteten Migrant_innen.

Erinnern – heißt kämpfen

Wir wollen im Januar 2012 sowohl an den Tod von Anastasija Baburova und Stanislav Markelov, aber auch an die zahlreichen anderen, bekannten und unbekannten Opfer nationalistischer Gewalt erinnern. Außerdem wollen wir auf nationalistische Strukturen und Aktivitäten in Russland hinweisen und die Öffentlichkeit in Deutschland für die gefährliche und zum Teil tödliche Situation russischer Menschenrechtler_innen und emanzipatorischer Aktivist_innen zu sensibilisieren. Des Weiteren wollen wir ein solidarisches Zeichen setzen gegen den nationalistischen Konsens in der Politik, gegen Nazi-Terror und die Kriminalisierung engagierter Antifaschist_innen in Russland!

Kommt zu unseren Veranstaltungen im Januar in Berlin und Potsdam!
Werdet selbst aktiv! Zeigt Solidarität mit den Genoss_innen in Russland!
Unterstützt ihren emanzipatorischen Kampf!

Gruppe 19. Januar Berlin